Innerlich verdrehte der Größere bei Shins Gesagtem die Augen. Natürlich waren sie nicht gottesgleich oder weise, doch man musste sich doch auch nicht benehmen wie im Kindergarten. Mit dem Alter kamen nun mal die Verantwortung und eine gewisse Reife. Victor war nicht nachtragend und konnte vergeben. Und im Vergleich zu vielen anderen interpretierte er nicht irgendeinen Schwachsinn in Handlungen von Menschen. Anstatt sich den Kopf zu zerbrechen, wieso sie etwas getan hatten, sprach Victor sie an. Und genau das hätte Shin doch auch machen können. Dann hätte er die letzten zehn Jahre Klarheit gehabt. Dann hätten sie womöglich ihre Freundschaft fortsetzten können. Stattdessen musste Victor nun dieses Gespräch führen. „Schön, dann haben wir ja Alles geklärt und können uns jetzt ganz normal benehmen. Wie schön.“ Ein Hauch von Sarkasmus lag in Victors Stimme. Er lächelte gezwungen, nahm noch einen letzten Zug seiner Zigarette, ehe er sie am Boden austrat. Für ihn war das Gespräch beendet. Er hatte dem nichts mehr hinzuzufügen. Und tatsächlich war er es auch leid über Fehler aus der Vergangenheit zu sprechen, die so lange zurücklagen. Er lebte in der Gegenwart und wollte sich auf seine Zukunft konzentrieren, anstatt alte Sünden auszugraben und neu einzuheizen. Davon hatte er mehr als genug. Und Shin sicherlich auch. Nachdem eine kurze Pause eingetreten und nichts mehr zu sagen war, wandte sich Victor schließlich wieder dem Gebäude zu und ging die Treppen bis zum Studio hoch. Er wollte sich nun auf das nächste Projekt konzentrieren und vorbereiten, das nach der Pause beginnen würde.
Auf der einen Seite fühlte sich Victor ertappt und schuldig. Ja, wahrscheinlich war er damals nicht der Freund gewesen, der er hätte sein sollen und den man sich gewünscht hätte. Doch auf der anderen Seite konnte er sich auch nicht daran erinnern, dass Shin jemals für die Freundschaft gekämpft hätte. Victor hatte einige Male kurz davor gestanden Shin anzusprechen, doch hatte sich dieser ebenfalls abweisend verhalten und sich von ihnen isoliert. Victor war nicht der einzige Schuldige an dieser Misere. Es gehörten immer zwei dazu, von Mag mal ganz abgesehen. „Ich kann mir gut vorstellen wie du dich gefühlt hast. Aber ich werde mich auch nicht als einzig Bösen in dieser Geschichte darstellen lassen. Ich habe Fehler gemacht, das gebe ich gerne offen zu. Ich war schwanzgesteuert und mir war Mag wahnsinnig wichtig… Was rede ich da eigentlich? Sie ist meine Verlobte und ich liebe sie. Ich bereue nicht wie es gelaufen ist. Es tut mir zwar leid, dass du dich so vernachlässigt gefühlt hast…“ Victor holte Luft, beließ es dann jedoch dabei. Er wollte nicht noch mehr aufwirbeln. Sie könnten Ewigkeiten diskutieren und dennoch würde nichts dabei herauskommen. Shin musste die Lage einfach akzeptieren. Victor schaute gen Himmel und genoss für einen kurzen Moment die Stille. Er befürchtete, dass Alles, was er sagen könnte, erneut in einem Streit eskalieren könnte. „Wie wäre es für den Anfang, wenn wir uns nicht mehr hassen und vielleicht… naja..“ Victor zuckte mit den Schultern, als könne Shin erahnen was er sagen wollte. „..wie Erwachsene benehmen, uns einen guten Morgen wünschen und uns nicht mehr wegen Kleinigkeiten angiften. Wir haben uns schließlich weiterentwickelt. Du bist genauso wenig auf der Stelle stehengeblieben wie ich. Wir sollten uns zu Nichts zwingen und wenn wir mal nach der Arbeit abhängen wollen, morgen oder in drei Jahren, dann tun wirs einfach völlig ungezwungen. Wie klingt das für dich?“
Selbst Victor war es aufgefallen, dass Shins Hände zitterten. Mit diesem Verhalten wurde Victor bloß unruhiger, doch redete er sich ein, dass es so schlimm nicht sein konnte. Womit könnte Shin ihn schon überraschen? Shins Worte durchstachen den Älteren wie tausend heiße Nadeln. Seine Finger kribbelten und in seiner Magengegend wurde es ganz flau. Was war das? Ein Kloß steckte in Victors Hals. Was sollte er darauf antworten? „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was du jetzt von mir erwartest.“ Gab Victor ehrlich zu. „Ich fände es auch schön, wenn wir nur annähernd das Verhältnis von damals wieder hätten, aber was soll ich denn jetzt deiner Meinung nach machen? Wie willst du darüber hinwegkommen? Ich weiß nicht, wie ich dir dabei helfen soll Alles zu verarbeiten.“ Er war völlig überrumpelt. Er war kein Seelenauffänger. Er wollte bloß… Harmonie. „Aber danke für deine Ehrlichkeit. Es…“ Victor schluckte und biss sich kurz auf die Unterlippe. „Es… Naja, es tut mir auch leid. Alles was passiert ist.“ Vielleicht war das ja ein erster Schritt. Aber ob die eine Freundschaft nach zehn Jahren wiederfunktionieren würde? Victor konnte sich nicht vorstellen, dass jetzt Alles getan und gesagt war. Die beiden hätten noch einen steinigen Weg vor sich, um erneut Vertrauen zu gewinnen. Und schließlich war da immer noch Mag, die Shin immer und immer wieder an damals erinnern würde. Victor inhalierte den Zigarettengeruch und blickte dann etwas fragend zu Shin. „Wie hast du dir die Zukunft vorgestellt? Willst du… einfach Frieden schließen und dann tun wir als wäre nie etwas gewesen?“
Die Verwunderung stand Victor wie ins Gesicht geschrieben, als Shin heute keine bösartigen Kommentare machte. Die Stimmung zwischen den beiden war angespannt und ziemlich bedrückend. Victor sagte nicht mehr als nötig und versuchte professionell zu bleiben, auch wenn er jetzt, wo Shin die ganze Zeit vor seinen Augen stand, nicht nicht an ihn denken konnte und das Treffen am Freitag. Schließlich war er auch ruhiger und etwas distanzierter, so kam es Victor vor. Hatten sie ihn ernsthaft verletzt? Machte er sich noch immer so viele Gedanken über damals? Wollte er möglicherweise immer noch etwas von Mag? Victor war froh, als die Aufnahmen endlich fertig waren. Er konnte sich nicht richtig konzentrieren und fühlte sich schlecht. Am liebsten hätte er direkt auf Arbeit eine kalte Dusche genommen, um endlich aufzuwachen. Doch dummerweise wandte sich nun Shin an ihn. Es war ungewohnt direkt von ihm angesprochen zu werden. Victor konnte sich nicht entsinnen, dass er das letzte Woche je getan hätte. Und dann wollte er auch noch zu zweit mit ihm sprechen? Victor musste kurz schlucken. Auf eine seltsame Art beängstigte ihn das bevorstehende Gespräch. Er konnte sich nicht vorstellen, was Shin von ihm wollte. Wollte er Victor zurechtweisen? Ihm jegliche Schuld in die Schuhe schieben oder beleidigen? Nein, nein, nein. Sie waren Erwachsen. Victor erhob sich von seinem Platz und nickte sachte. „Klar, ich hab jetzt echt eine nötig.“ Antwortete der Größere und folgte Shin nach draußen. Sie nahmen den Weg zum Innenhof, um in Ruhe zu sprechen. So wurden sie zumindest nicht vom Verkehr gestört. Victor zog eine Zigarette aus seiner Hose und steckte sie sich an. Dann lehnte er sich gegen die Wand und sah fragend zu Shin. „Was gibt’s denn?“ erkundigte sich Victor völlig unwissend tuend. Auch wenn er es nicht gerne zugegeben hätte, so wäre sein Herz fast aus seiner Brust gesprungen.
„Komm Mag, ich muss mir das jetzt wirklich nicht mehr geben.“ Knurrte Victor bissig und hielt ihr seine Hand hin. Diese ergriff Mag auch. Sie warf Shin noch einen wehleidigen Blick zu, ehe die beiden die Bar verließen. „Dass du dich immer gleich so aufregen musst, Vic.“ Flüsterte Mag. Sie war verunsichert und hatte ein schlechtes Gewissen. Schließlich hatte sie die Kluft der beiden Männer nur noch größer gemacht. Das Treffen hätte nie stattfinden sollen. Mittlerweile war sich Victor nicht mehr sicher, woran er bei Shin war und auch er musste seine Gedanken bezüglich des Jüngeren erstmal ordnen. Er war verwirrt, komischerweise. Am Liebsten hätte er nur Hass und Wut für Shin empfunden, doch irgendwie spielte auch Mitleid und Unsicherheit mit hinein, Angst. An diesem Abend sprachen Mag und Victor nicht mehr über den Vorfall oder Shin. Sie vermieden dieses Thema das ganze Wochenende über. Stattdessen konzentrierten sie sich darauf die letzten Umzugskartons auszuräumen und Ordnung in ihre Wohnung zu schaffen. Dennoch spuckte Shin dem Tontechniker noch im Kopf herum, schließlich würden sie am nächsten Tag wieder zusammenarbeiten müssen. Allein dieser Gedanke verdarb Victor seinen geliebten Sonntagabend auf der Couch mit seiner Geliebten. Würde Shin seinen Arbeitskollegen von diesem Vorfall erzählen? Wie würde er am nächsten Montag wohl auf ihn reagieren? Könnten sie womöglich jeglicher Vorstellungskraft vernünftig miteinander umgehen? Schließlich war es soweit. Victor hatte sich heute schon eher auf den Weg zur Arbeit gemacht, da er noch ein wenig Papierkram erledigen und Emails beantworten wollte. So Früh am Morgen hatte er zumindest Ruhe und war völlig ungestört. Doch nach einer halben Stunde trudelten seine ersten Kollegen ein. Er folgte ihnen und zusammen setzte sie sich im Pausenraum an den Tisch, um sich einen Kaffee zu genehmigen.
Victor vergrub sein Gesicht kurz in seinen Händen und rieb sich über die Augen. Das war ja ein schönes Desaster. Er war total überrumpelt, ebenso wie Mag, die nicht so recht wusste was sie erwidern sollte. Waren sie zu weit gegangen? Waren sie taktlos gewesen? Vielleicht war es unangebracht zu zweit, als geschlossene Front auf ihn einzureden, doch andererseits war das Drama schon ein Jahrzehnt her. Zu der Zeit waren nicht viele zimperlich und einfühlsam. War es zu viel verlangt einfach wie Erwachsene darüber zu reden oder gar darüber zu lachen? „Shin, bitte geh nicht. Setz dich wieder, das war nicht unsere Absicht.“ Versuchte Mag das Ganze wieder in die richtige Bahn zu lenken, doch wahrscheinlich war es dafür schon zu spät. Shin schien ernsthaft verletzt zu sein. „Mag, lass gut sein. Wir hätten ihn nicht herbitten sollen. Das war eine dumme Idee. Wahrscheinlich ist es von einigen Menschen einfach zu viel verlangt einen Fehler, der zehn Jahre zurückliegt, zu verzeihen.“ Knurrte Victor. So hatte er sich seinen Freitagabend nicht vorgestellt. Mag schien dem Gesagten zwar nicht zuzustimmen, allerdings wusste sie auch nicht, wie sie so eine Katastrophe wieder gradebiegen sollte. „Shin, solltest du doch nochmal über Alles reden wollen, kannst du mich gerne jederzeit anrufen, okay?“ ihre Stimme klang etwas brüchig. „Komm Mag, ich will jetzt auch gehen. Der Abend ist gelaufen.“ Viktor legte einen Schein auf den Tisch, der für die drei Getränke mehr als ausreichen sollte und stand auf. Sein Blick war kühl und abwehrend, enttäuscht und distanziert. Was hatten sie sich von all dem eigentlich versprochen? Dass Alles wieder gut gehen würde und sie als Freunde hier raus gehen würden? Das war Alles so lächerlich…
Victor überkam ein unwohles Gefühl, als Shin den Namen seiner Frau aussprach. Es klang so… vertraut, aber doch auch überaus befremdlich. Seine darauffolgenden Worte waren für Victor ziemlich verständlich, aber dennoch tat ihm seine zukünftige Frau leid. Schließlich hatte sie es nur gut gemeint. Sie war eine optimistische und stets gut gelaunte Seele. Doch tatsächlich verzogen sich ihre Mundwinkel jetzt nach unten und auch sie musste deutlich schlucken. „Shin…“ flüsterte sie kaum merklich. Victor spürte wie schwer es Mag fiel zu sprechen, weshalb er selbst das Wort übernahm. „Hey. Ja klar, ihr wart vor zehn Jahren ein Paar. Aber da wart ihr beide noch jung und leichtsinnig. Ihr wart Jugendliche, wir waren es. Das Ganze ist schon zehn Jahre her und du willst mir verklickern, dass du das Alles noch nicht verkraftet hast? Das ist lächerlich. Das Leben geht doch weiter und du wirst sicher auch Frauen… oder Männer kennengelernt haben.“ Schnaubte Victor. „Es ist nun mal passiert und du bist alt genug, damit leben zu können. Es gibt nichts zu klären. Nichts. Mag und ich werden Ende des Jahres heiraten und ihr Angebot war überaus gütig.“ Viktor spürte wie Mag ihre Hand auf seinen Oberschenkel legte und beruhigend darüber streichelte, um ihn zu beruhigen. Doch jetzt war Viktor aufgebracht. Er steigerte sich immer mehr in die Sache rein und musste erstmal einen Schluck trinken, um nicht wirklich laut zu werden. „Schon gut, Vic.“ Mag biss sich auf die Lippe und wandte sich wieder Shin zu. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass dich das Alles noch immer so mitnimmt. Hättest du etwas gesagt, hätten wir doch auch schon viel eher miteinander reden können.“ Nun war die Stimmung komplett hin. Victor fühlte sich verdammt unbehaglich in seiner Haut und wäre am liebsten aufgesprungen, doch anstandshalber blieb er sitzen und rang sich sogar nochmal ab, etwas zu sagen. „Wir waren damals beste Freunde. Tut mir wirklich leid, dass ich mich in die bezauberndste Frau der Welt verliebt habe, aber es ist nun mal passiert. Es wird dir auch keinen ewigen Frieden bringen, wenn du für immer Groll auf uns schiebst.“
Victor spürte wie unangenehm Shin die Situation war und fast hätte er ihm sogar ein wenig leidgetan. Zumindest bis er an seine bissigen Kommentare denken musste, die er täglich von seinem Gegenüber abbekam. Er lockerte seinen Griff an Mags Schulter, ehe er seine Hände schließlich auf dem Tisch verschränkte und mit kühlem, ausdruckslosem Gesicht zu Shin schaute. Die Konversation nahm er nur mit halbem Ohr wahr. „Das hört sich ja toll an, Shin! Du hast in der Zeit sicher einiges dazu gelernt und viele Menschen kennengelernt! Hast du auch selbst in Filmen mitgewirkt? Kenne ich vielleicht einen?“ wollte Mag voller Begeisterung wissen. Sie legte den Kopf schief und lächelte Shin aufmunternd zu. Auch ihr war aufgefallen, dass eine Spannung zwischen den Männern lag. Victor konnte bloß hoffen, dass sie die Situation nicht allzu sehr ausnutzte und strapazierte. Andernfalls würde die Stimmung zwischen Shin und ihm sonst noch brenzliger werden. „Ich habe nach Schulabschluss Architektur studiert und arbeite jetzt für eine große Baugesellschaft. Die Arbeit macht wirklich Spaß und ich kann mich so richtig… austoben.“ Erzählte Mag enthusiastisch. Man konnte spüren, wie sehr ihr die Arbeit am Herzen lag. Manchmal wirkte sie wie ein kleines Kind, wenn sie davon berichtete. Und schon kam der Kellner und brachte den drein ihr Getränk. Victor lächelte dem Kellner dankend zu und schlürfte direkt an seinem Cocktail. „Shin… Ich hoffe wirklich, dass ich dich damit nicht überrumpell, schließlich sehen wir uns heute nach zehn Jahren wieder…, aber ich würde mich wirklich... ich meine wir würden uns wirklich sehr freuen, wenn du auf unsere Hochzeit kommen würdest. Du bist herzlich eingeladen.“ Mag warf ihrem Verlobten einen vorwurfsvollen Blick zu, doch konnte Victor gerade selbst nicht wirklich reagieren. Von dieser absurden Idee hörte er heute zum ersten Mal. „Vergraben wir am besten alle negativen Ereignisse, die zwischen uns passiert sind. Ich mag dich nach wie vor sehr gern, Shin.“ Wieder lächelte sie so zutraulich. „Mag, wir sollten ihm Bedenkzeit geben.“ Warf Viktor mit kratziger Stimme ein.
Lächelnd schritt Mag auf ihren Ex-Freund zu. Sie hob leicht die Hand und winkte ihm zu. „Na du? Gut siehst du aus!“ begrüßte sie ihn und erwiderte die Umarmung überschwänglich. „Ja, super! Ich hoffe du auch?“ antwortete sie auf Shins Frage und fuhr sich durch ihr langes, gewelltes Haar. „Ach Quatsch, wir haben dich eingeladen. Such du dir bitte etwas aus!“ beschwichtigend legte Mag ihre Hände auf Shins und tätschelte sie kurz. Seit sie ihren Verlobungsring trug, hatte Mag die Angewohnheit diesen immer unwillkürlich zur Schau zu stellen. Als sie dies bemerkte, zog sie ihre Hände schnell wieder zurück und lächelte leicht beschämt. Nur wenige Momente später kam auch Victor dazu, dessen Gesichtsausdruck das komplette Gegenteil von Mags war. Er nickte Shin nur kurz zu, ehe er sich neben Mag auf das schwarze Leder setzte und seinen Arm um sie legte, ganz nach dem Motto, dass sie ihm gehörte. Nun kam auch ein Kellner und fragte höflich nach den Getränken. „Wir nehmen jeweils ein Bahama Mama, oder?“ Mag sah fragend zu Victor, der nur sachte nickte. „Und du, Shin?“ lächelnd sah Mag zu ihm. Victor beobachtete die seltsame Situation nur mit Argwohn. Das war einfach schrecklich. Schrecklich für Shin, dem die damalige Trennung sicher nicht einfach gefallen war, schrecklich für Victor, der die Bemerkungen und schlechte Laune seines Arbeitskollegen satt hatte und Mag.. ja, sie freute sich. Ein ziemlich sadistischer Zug von ihr. „Also Shin… Erzähl mal. Wie geht es dir? Was hast du die letzten Jahren so gemacht?“ begann Mag ihre Fragestunde. Unwillkürlich bohrten sich Victors Finger fester in Mags Haut, die ihrem Verlobten einen mahnenden Blick zuwarf.
Unmerklich schnaubte Victor. Natürlich, es tat Shin leid, dass er sie zum Mittagessen nicht begleiten konnte. Wahrscheinlich machte er innerlich Freudensprünge. Sein verbittertes Gesicht hatte Victor gereicht, als er aus dem Aufnahmeraum gekommen war. Vermeidliche Trauer sah anders aus, aber das sollte Victor nicht davon abhalten ein angenehmes Mittagessen mit seinen Kollegen zu haben. Shin würde er in Zukunft noch oft genug sehen.
Die erste Woche verlief für Victor besser als erhofft. Er leistete gute Arbeit und hatte Spaß mit seinen Kollegen, die ihn auch zu mögen schienen. Bloß Shin war ihm ein Dorn im Auge. Immer wenn die beiden alleine waren, feindeten sie sich an und es lag immer ein gefährliches Brodeln in der Luft. Man hätte denken können, dass die Situation jeden Moment ausarten könnte. Victor hatte auch seiner Verlobten Mag von Shin erzählt, die total angetan war ihn wiederzusehen. Sie hatte ihn ohne zu Zögern auf Facebook angeschrieben und zu einem Treffen in einer nahegelegenen Bar eingeladen. „Aber er ist dein Ex. Ich verstehe nicht, weshalb du ihn sehen willst. Und außerdem hasst er mich.“ grummelte Victor. „Und ich ihn.“ Fügte er noch leise, kaum merklich hinzu. „Ja, na und? Shin und ich waren immerhin über ein Jahr zusammen. Willst du nicht wissen, was er die letzten Jahre so gemacht hat? Wie es ihm geht?“ – „Nein, nicht im Geringsten.“ – „Dann bleib doch hier.“ Mag zog eine Schmolllippe und sah verärgert zu Victor hoch. „Mag… das… ich…“ er stöhnte auf. Er wusste wann er verloren und die Klappe zu halten hatte. Die Stunde der Wahrheit rückte immer näher. Mag zog sich noch einen Lidstrich, während Victor sein bestes Parfum auftrug. Trotz Shins Anwesenheit wollte der 27-Jährige einen guten, gepflegten Eindruck bei dem Personal der Bar hinterlassen. Er hatte sich eine schwarze Hose angezogen und ein graues Shirt mit V-Ausschnitt, das an einigen Stellen Risse hatte. „Du siehst gut aus.“ Schnurrte Mag und zog Victor herunter, um ihm ein Kuss auf seine Lippen zu drücken. „Danke, du auch.“ Säuselte er. Victor fuhr sich noch einmal durch seine Haare, ehe sich die beiden auf den Weg machten. Die Bar war mit öffentlichen Verkehrsmitteln etwa 20 Minuten von ihrer Wohnung entfernt und sah überaus verheißungsvoll aus. „Das nächste Mal gehen wir allein hier her.“ Grinste Victor. „Gehst du schonmal rein? Ich rauche noch eine und komme gleich nach.“ Mag nickte zustimmend und betrat die Bar in ihrem schicken, schwarzen Minikleid. Victor holte sich eine Zigarette aus der Hosentasche, steckte sie an und legte den Kopf in den Nacken. Das konnte ja ein Abend werden…
Ein Schmunzeln schlich über Victors Gesicht. Shins Rolle passte ja wie angegossen zu ihm: ein mürrischer, rechthaberischer, sadistischer und vor allem übelgelaunter Kater. Na wenn das mal nichts war… Shin betrat das Tonstudio und kurz bevor er loslegte, fauchte er Victor an und sah ihm dabei direkt in die Augen. … Okay?! Victor war etwas perplex, doch dauerte seine Verwunderung nicht allzu lange an. Er konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit, gab Shin hin und wieder Anweisungen oder Signale, wenn er etwas wiederholen sollte. Auch Victor musste sich eingestehen, dass Shin sehr talentiert war. Und die Rolle war wie für ihn gemacht. Im Großen und Ganzen klappte die Zusammenarbeit aus Victors Sicht schlussendlich sogar ganz gut, trotz kleiner Hindernisse. Schließlich waren die beiden Erwachsene. Zumindest konnte Victor Berufliches und Privates voneinander trennen. Er wollte schließlich auch einen guten Start in der neuen Firma hinlegen. Sie arbeiteten bis zum Mittag durch und kamen dabei gut voran. Schließlich machte sich Victors Magen bemerkbar. Er setzte das Headset ab und hob die Hand, um Shin zu signalisieren, dass er Pause machen würde. „Was haltet ihr davon, wenn ich euch zum Mittag einlade?“ Victor hatte sich zu seinen neuen Kollegen umgedreht, die neben ihm aufgepasst und mitgeholfen hatten. Einer war ziemlich groß, trug eine Nerdbrille und ein rot-weiß kariertes Hemd. „Na klar, gerne!“ er klopfte Victor freudig die Schultern. „Ich bin übrigens Michael, aber alle nennen mich Mike.“ – „Victor, sehr erfreut.“ Auch der junge Mann zu seiner Rechten hatte zugestimmt. Nun fehlte bloß noch Shin, aber dieser würde sich bestimmt sträuben mitzukommen. Dennoch war es ja ein Versuch wert zu fragen. Es musste ja nicht jeder in der Firma wissen, dass die beiden nicht gut miteinander konnten. Das würde die Teamfähigkeit nicht stärken. „Wie siehts aus? Kommst du auch mit, Shin?“ auffordernd blickte Victor zu Shin.
Victor konnte nur die Augen verdrehen. Er konnte sich selbstverständlich auch professionell und anständig verhalten. Er wurde stets geschätzt und hatte seine Arbeit immer ernst genommen und gewissenvoll erledigt. Bis auf Shins nervtötende Art und der Wahrscheinlichkeit, dass sie sich noch öfter angehen würden, hatte Victor diesen Platz also sicher. Und wer weiß… Vielleicht konnte Shin seine Abneigung gegenüber dem Anderen ja auch eines Tages ablegen. Victor würde es brennend interessieren, was sich in Shins Leben so abspielte. Immerhin lebte er in London. Er musste erfolgreich sein in dem was er tat… also als Synchronsprechen. Ob er wohl schon in Filmen mitgesprochen hatte, die Viktor kannte? Schnell schüttelte er den Gedanken ab und begab sich ins Tonstudio. Dort schaute er sich erstmals um, da er noch nicht mit dieser Technikmarke gearbeitet hatte. Dennoch kam er gut zurecht und überprüfte Mikro, die Beschallung und begab sich schließlich zur Pausenküche, um Shin zu rufen. Dieser unterhielt sich mit der hübschen Orangehaarigen. „Hey.“ Lächelte Viktor ihr zu und wandte sich dann an Shin. „Kommst du? Ich bin mit der Vorbereitung fertig. Und wie du weißt, sind wir schon im Verzug.“ Viktor verwendete mit voller Absicht dieselben Worte wie Shin zuvor. Er wollte mahnend klingen und auch, als ob er bereits den vollen Überblick hatte. Man hätte meinen können, dass er schon Ewigkeiten dort arbeitete. Victor begab sich zurück zum Studio und setzte sich auf seinen Platz, schaltete seine Technik und den Computer an. Dann nahm er sich die Aufzeichnungen und überflog Shins Text. Nach Shins Redeanteil zu schließen, durfte er wohl eine der Hauptdarsteller synchronisieren. Seine Stimme war auch markant. Ein guter Job, den er da ergattert hatte. „Na dann wollen wir mal…“ murmelte Viktor leise vor sich hin. Die Arbeit konnte beginnen.
Victor konnte seinem Gegenüber ansehen, dass dieser kochte. Er hatte seine Hände zu Fäusten geballt und schien wohl noch mit sich zu ringen. Victor zog bloß seine Augenbrauen hoch und ein süffisantes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Sollte er doch. Sollte Shin doch auf Victor losgehen. „Ich spiele den Arschkriecher, wenn ich es für nötig halte. Aber keine Sorge… Mr. Adams hat ein ziemlich gutes Bild von mir.“ Lächelte der Größere und hoffte instinktiv den Anderen damit zu provozieren. Aufgrund von Shins Vergangenheit war Victor klar, dass der Andere ab und zu auch zuschlagen konnte. Auch Victor hatte ein paar Mal einstecken müssen, doch das war mittlerweile Jahre her. Und schließlich hatten sie ja auch schöne Momente zusammen erlebt. Bis Victor dann auf Frauenjagd gegangen war. Aber immerhin hielt diese Beziehung nun schon seit fast zehn Jahren! Ob Shin in seinem Liebesleben wohl auch so… glücklich war? Ob er ausgelastet war? Victor konnte es sich bei diesem benehmen kaum vorstellen. Jeder normale Erwachsene hätte so eine jugendliche Sünde längst verziehen. „Du musst dich wohl damit abfinden. Ich habe Berufserfahrung und ein exzellentes Arbeitszeugnis vorzuweisen. Ich bin wohl essentiell für die Firma, also auch für dich.“ Erwiderte Victor. „Ach, und den Arbeitsvertrag habe ich bereits unterschrieben. Dennoch hoffe ich, dass du mir meine Probezeit so angenehm wie möglich gestalten wirst. Wir sind schließlich ein Team.“ Das letzte Wort hatte Victor besonders betont, während sich seine Augen in die des Jüngeren bohrten. „Ich lade dich auch gerne mal auf ein Bier ein.“ Fügte er schnell und mit weniger Ernsthaftigkeit hinzu. Diese passive Aggressivität hatte er von Mag kopiert. Sie war immer ein guter Streitpartner gewesen, von der man eine Menge lernen konnte.
Es dauerte keine zehn Minuten, ehe Victor von seinem Chef unterbrochen wurde. Er hatte sich mit einem Klopfen angekündigt und betrat mit einem verunsicherten Lächeln den Raum. „Mr. Smith… vielleicht haben Sie durch die Scheiben bereits erkannt, dass Mr. Ross ebenfalls hier arbeitet. Sie kennen sich bereits?“ Victor rutschte etwas unruhig auf seinem Stuhl hin und her, bevor er sich räusperte. „Ja, auch wenn wir leider nicht gut auseinander gegangen sind.“ „Nun, das hat er mir auch gesagt. Und, dass er nicht mit Ihnen arbeiten wird. Mr. Smith, klären Sie das bitte mit Mr. Ross in Ruhe.“ Und damit verschwand sein Vorgesetzter. Victor seufzte nun laut auf und lehnte sich zurück, schloss die Augen und atmete tief durch. Das konnte doch nicht wahr sein! Das war sein erster Arbeitstag in einer Firma, die ihm vom ersten Moment gut gefallen hatte. Und nun musste tatsächlich Shin hier arbeiten? Das sollte wohl ein schlechter Scherz sein! Unwillig stand der Neue auf und ging geradewegs zu seinem alten Bekannten. Er brauchte sich auch gar nicht ankündigen, da sein Erscheinen durch die teils verglasten Wände abzusehen war. „Hi.“, war Alles, was Victor herausbrachte, als er die Höhle des Löwen betrat. Shins Gesichtszüge sahen verkrampft aus, bissig und alles andere als erfreut. Victor war sich bewusst, dass sein Gegenüber ihm wahrscheinlich am liebsten den Hals umgedreht hätte. Wer könnte es ihm auch verübeln? Victor war in der Vergangenheit ein Arsch gewesen und war es teilweise immer noch, zumindest manchmal. „Ich habe gehört, dass du nicht mit mir zusammenarbeiten willst. Liegt das vielleicht daran, dass ich dir damals die große Liebe ausgespannt habe? Oder, dass du in meinem Schatten immer gefröstelt hast?“ scherzte Victor und lehnte sich seitlich gegen die Wand. Seine Arme hatte er längst verschränkt. Was Shin konnte, konnte Victor allemal!
Überall wo man auch hinblickte, waren Umzugskartons in der freizügigen Wohnung übereinandergestapelt. Auf dem Boden lagen vereinzelte Sachen herum, die vom trüben Licht von draußen benebelt wurden. Alles sah friedlich aus, bis…
„I'm awake, I'm alive Now I know what I believe inside Now, it's my time….“
Mit noch völlig verklebten Augen schaltete Victor seinen Wecker aus, ehe ihn John Coopers Stimme fünf Minuten später vollkommen aus dem Bett warf. Er war einfach kein Morgenmensch, doch heute sollte ein ganz besonderer Tag werden! Vor knapp einem Monat hatte sich der junge Mann bei einem Tonstudio mitten in der Londoner Innenstadt beworben. Zwar überschlugen sich die Mieten in der Weltstadt, doch das war es alle mal wert! Ein Traum erfüllte sich für Victor und seiner zukünftigen Ehefrau. Knurrend stand Victor auf, frühstückte und wusch sich, ehe er sich ein schwarzes Shirt mit V-Ausschnitt und eine hochwertige Lewis-Jeans überzog. Als Tontechniker musste er glücklicherweise nicht in Schlips und Krawatte auf Arbeit erscheinen. Kurz bevor er sich auf dem Weg machte, gab er Mag, seiner Verlobten, einen Kuss und wünschte ihr noch einen schönen Tag. Glücklicherweise hatte das verliebte Paar eine Wohnung in der Nähe des Studios ergattern können. Victor benötigte eine Viertelstunde zu Fuß, was bei dem hohen Verkehrsaufkommen ein Segen war. Als er das Tonstudio erreicht hatte, klingelte er, machte einen Schritt zurück und blickte ein letztes Mal an sich herunter. Ja, so konnte er sich definitiv sehen lassen! Er setzte sein Zahnpasta-Lächeln auf, als er von einer hübschen, zierlichen Frau hereingebeten wurde. Sie hatte orangefarbenes Haar und knallrote Lippen. Dazu trug sie einen schwarzen Rock sowie eine gepunktete Bluse. Süß. Victor musste sich gar nicht vorstellen, schon begann sie zu strahlen. „Sie müssen Mr. Smith sein! Herzlich Willkommen!“. „Ganz genau der bin ich. Vielen Dank.“, lächelte Victor, und folgte der zierlichen Frau. Sie führte ihn durch das moderne Gebäude und blieb schließlich vor einer Tür stehen, klopfte an und öffnete die Tür als ein kurzes „Herein bitte“ ertönte. Sie nickte Victor zu, der daraufhin die Tür öffnete und das Büro betrat. Ein älterer Mann mit Halbglatze, Anzug und knallgelber Krawatte schaute von seinem Schreibtisch zu ihm auf. „Ach Mr. Smith. Wie schön Sie endlich zu sehen! Haben Sie gut hergefunden?“ begrüßte er den Neuankömmling, stand auf und reichte dem jungen Mann die Hand. Dieser erwiderte das Händeschütteln. Nach kurzem Smalltalk führte Victors zukünftiger Chef, Mr. Adams, den Neuen herum, ehe sie im obersten Geschoss und somit Victors neuem Arbeitsplatz stehenblieben. „Ich hoffe Sie finden sich gut hier ein. Ich habe keine Zweifel, dass Sie sich mit allen wunderbar verstehen werden.“ Lächelte der Ältere und klopfte Victor die Schulter. „Vielen Dank, Mr. Adams. Das hoffe ich doch auch! Aber bisher gefallen mir die Räumlichkeiten wirklich gut. Und wegen der Kollegen mache ich mir gar keine Gedanken.“ Erwiderte Victor mit kräftiger Stimme. Er hatte zweifelslos einen guten Eindruck hinterlassen. Sie tauschten noch ein paar Worte aus, ehe sich Mr. Adams auf den Weg machte. Victor seufzte kurz auf, stemmte die Arme in die Seite und blickte auf seinen neuen Arbeitsplatz. Er wollte sich schon an die Arbeit machen, als er aufblickte und ins Stocken kam. Das konnte doch nicht… Nein, nicht hier… War das wirklich...? Victor wollte seinen Augen nicht trauen, als er durch einige Glasscheiben einen damaligen Freund erblickte. Aufgrund von misslichen Umständen waren sie zerstritten auseinandergegangen und nicht gut aufeinander zu sprechen. Schuld dafür war wohl Victor, doch eigentlich hatte er mit dem Kapitel längst abgeschlossen. Er biss sich kurz auf die Unterlippe, ehe er sich umdrehte und seine ersten Unterlagen zur Hand nahm.