RE: Blut für Blut - 2

"Du wirst hier neue finden."
Sedra hatte kein wirkliches Mitleid erwartet. Vielleicht, weil er es nie zuvor erfahren hatte. Er war abgestumpft in dieser Hinsicht. Doch hob er irritiert den Blick. Der letzte Satz seines Gegenübers klang wie eine Feststellung. Als ob bereits feststünde, dass er hier bleiben und tun müsse, was auch immer diese Leute, die er nicht kannte, von ihm wollten. Doch als jemand, der zum Dienen geboren worden war, hinterfragte er nicht. Immer noch zurückgezogen und kleinlaut bemerkte er, dass er offenbar eine neue Anstellung erhalten sollte und deshalb ausgefragt wurde. Oh nein, Sedra war nicht dumm. Er war sogar sehr scharfsinnig. Doch als Diener hatte man nicht intelligent zu sein, weshalb alle anderen und somit auch er selbst sich für dumm hielten.
"Ich... ich habe viele Dinge gemacht, Herr. Die... Die Tiere versorgt und auf den Feldern geholfen. Besorgungen gemacht... Wenn die Herrschaft zur Jagd aufgebrochen ist, habe ich sie begleitet. Sie haben mir sogar das Bogenschießen beigebracht."

Er würde Sedra gewiss nicht gegen dessen Willen im Brokilon festhalten. Es stand jedem frei für sich selbst zu entscheiden, was er mit seiner neu erlangten Freiheit anfangen wollte. In seiner derzeitigen Verfassung war es allerdings keine gute Idee, den Jungen gehen zu lassen, da er leichte Beute für umherstreifende Nilfgaarder wäre. Sobald er zu Kräften gekommen war, dürfte er gehen, wohin er wollte. „Ein Kämmerer also“, schloss er aus der knappen Erzählung des Knaben. Iorveth überlegte kurz und stellte fest, dass auch er einen Kämmerer gebrauchen könnte. Vorausgesetzt der Bursche war gewillt, jene Arbeit aufzunehmen. „Hast du die Aufgaben gerne gemacht? Oder gibt es etwas anderes, das dir besser liegt?“, hakte er nach, um zu ergründen, wofür sich der Junge eignete. Dem Scoia’tael war es wichtig, dass jeder Bewohner des Brokilons mit Überzeugung und Leidenschaft das tat, wofür er einstand. Die Stärken und Talente des Jeweiligen sollten dabei im Vordergrund stehen.

"Ein... Kämmerer?", fragte der Bursche verwirrt. Eine solch hochgestochene Bezeichnung konnte man für das was er getan hatte nun wirklich nicht gebrauchen. Daher erheiterte es ihn sogar ein wenig, dass ihm ein leises Lachen über die Lippen huschte. "Nein, ich... ich bin nur ein einfacher Stalldiener, mehr nicht. Mehr nicht..." Die Vorstellung, die wichtigen Aufgaben eines Kämmerers zu übernehmen. Nein, solch ein Amt hätte sein Herr niemals einem Elfen wie ihm anvertraut.
"Das ist etwas für... für klügere Leute."

Das ist etwas für klügere Leute.
Früher hatte er diesen Satz oft gehört. Hatte Fragen gestellt. Einmal hatte er sogar versucht, sich das Lesen beizubringen. Doch immer war da jemand gewesen, der ihm gesagt hatte "Das ist was für klügere Leute". Sie wollten nicht, dass er besser war. Er sollte so bleiben, wie er war. Dumm und fleißig und glücklich damit. Und irgendwann hatte er aufgehört, mehr sein zu wollen, aufgehört, zu hinterfragen. Das war etwas für klügere Leute.
"Ich... weiß nicht", antwortete er auf die nächste Frage und zog sich zurück, wie aus Angst, er könne dafür eine kassieren. "Ich habe... noch nie was anderes gemacht."

Für menschliche Maßstäbe mochte ein Kämmerer mehr Verantwortung besitzen als es bei den Elfen der Fall war. Dezimierende Bezeichnungen wie "Stallbursche", "Küchenmagd" oder "Viehtreiber" gab es bei den Elfen nicht. Jeder, der eine Aufgabe mit Eifer und Begeisterung ausführte, bekam eine entsprechende Betitelung, die das Selbstwertgefühl steigerte. Wer sich um das Wohl der Volkes kümmerte, Besorgungen und Botengänge machte, der wurde respektvoll "Kämmerer" genannt. Dass sich Sedra mit dieser Position nicht identifizieren konnte, hätte er sich denken können. Wenigstens konnte er ihm auf diese Weise ein Lachen entlocken, das ihm um einiges besser zu Gesicht stand als die vergossenen Tränen.
"Hältst du dich etwa nicht für klug?", forschte der Einäugige weiter, als würde er die Eloquenz, Intelligenz und Scharfsinnigkeit des Jungen ermitteln wollen. Dabei unterzog er ihn einer genaueren Untersuchung, die seinem Leib galt. Dürr wie der unterernährte Bursche war würde man ihn kaum für harte, körperliche Arbeit einsetzen können. Ein Krieger war er ebenso wenig wie er zuvor im Dorf feststellen durfte. Es blieben daher nur noch leichtere Tätigkeiten, die entweder Fleiß oder Verstand erforderten. "Willst du denn etwas anders machen? Oder kannst du dich mit der Arbeit eines Kämmerers anfreunden? Vorerst?", stellte er dem Burschen in Aussicht, sich sinnvoll im Lager zu betätigen.

"Ich?", fragte er verwundert, als habe er noch nie gehört, dass ihn jemand für klug gehalten hätte. Nun, so war es ja auch. "N-Nein, Herr!" Ihn schien die Vorstellung beinahe zu erschrecken. Denn nur mächtige Leute, die zu bestimmen hatten und viel Verantwortung trugen, waren klug. Auf ihn traf nichts davon zu.
Auf den ersten Blick mochte man meinen, Sedra fürchte sich vor dem Anführer der Rebellen. Nun, er war sicherlich kein vertrauenerweckender Mann. Doch vielmehr wurde der Junge innerhalb weniger Minuten mit allerlei Konzepten konfrontiert, denen er zuvor noch nie begegnet war. Wertschätzung, Entscheidungsfreiheit, die Frage, was er von sich selbst hielt. Das waren alles Dinge, von denen man ihn ferngehalten hatte und es auch noch so hatte aussehen lassen, als würde man ihm diese Bürde freundlicherweise abnehmen. In Wahrheit jedoch hatte man ihn all jener Eigenschaften beraubt, die einen freien Mann ausmachten. Vor Iorveth saß der traurige Schatten eines jungen Elfen, der ein Bild der Lebensfreude hätte abgeben müssen.
So verwunderte es wenig, dass Sedra mit der Frage, ob er denn etwas anderes machen wollte oder mit seiner Aufgabe überhaupt auch nur zufrieden war, heillos überfordert wirkte. Die Bemühungen des Mannes, Vertrauen aufzubauen, mündeten beinahe in einer Existenzkrise.
"I-Ich mache das, Herr...", murmelte er kleinlaut. Es stand für ihn fest, dass er die Aufgaben erledigte, die ihm aufgetragen wurden. Eine Wahl gab es da für ihn nicht.
Es war schon erstaunlich, der Kontrast zwischen den beiden Elfen. Der eine gezeichnet von Entbehrungen und ein Sinnbild der Stärke. Und dann Sedra, der den Blickkontakt nicht halten konnte und vor Angst nur stammeln konnte.