RE: Alter Schmerz erblüht erneut - 3

Ich stand nur noch unter Wut. Heißer, rasender, blinder Wut. Ich schrie unterdrückt und fühlte mich wieder wie damals. Ich ging zur Tür, nahm den Schlüssel heraus. "Du ließt jetzt!", fuhr ich ihn an. Dann ging ich raus und knallte hinter ihm die Tür laut zu, schloss ihn darin ein. Zwei mal trat ich noch gegen die Tür. Es war zu spät. Die unterdrückten Gefühle und mein bekämpftes Selbst aus der Vergangenheit waren wiederbelebt. Und er würde den Preis dafür zahlen.


1. Brief
2 Wochen nach dem Verschwinden von Judas

Hey River,
ich durfte mich früher nicht melden. Ich darf auch gar nicht so viel schreiben, weil sie mich für gefährlich halten. Ich bin in irgendeinem Kinderheim untergebracht worden. Die Betreuer sind hier sehr streng und es hassen mich hier alle. Nichtmal mein Handy darf ich hier haben. Ich hasse sie auch. Tut mir leid, dass ich mich früher nicht melden konnte, so sind die regeln. Bitte schreib mir zurück. In ein paar Wochen darfst du mich vielleicht mal besuchen.


2. Brief
4 Wochen nach dem Verschwinden

Hallo,
Ich hoffe, mein letzter Brief kam bei dir an. Vielleicht hast du ja auch einfach keine Zeit oder sowas. Schule ist bestimmt richtig schwer. Ich gehe jetzt auch wieder zur Schule, sie haben mich hier in einer Schule angemeldet. Alles ist richtig beschissen. Die Leute haben Angst vor mir und ich kriege immer nur Ärger. Meld dich mal.



3. Brief
7 Wochen nach dem Verschwinden

Ey River,
bitte schreib mir doch endlich mal zurück. Ich vermisse dich voll. Wie geht’s dir so?




4. Brief
11 Wochen nach dem Verschwinden

Das ist wirklich mies von dir, mich zu ignorieren. Ja, vielleicht weißt du, dass ich einen heftigen Fehler gemacht habe. Das tut mir alles so leid. Ich erkläre dir alles, wenn wir uns endlich wieder sehen. Aber bitte schreib mir zurück oder ruf hier wenigstens mal an. Die Nummer ist 09667 68831316.



5. Brief
12 Wochen

Hallo,
ich durfte endlich mal kurz an mein altes Handy, als meine Mom hier war. Habe bei euch Zuhause angerufen und deine Mom sagte, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst und du mich für das alles hasst. Du kannst mich mal.



6. Brief

// Es sind nur noch einige vertrocknete Blutflecken auf dem Stück Papier //

Ich las einen Brief nach dem anderen. Es stand nie viel da, doch das was ich lesen konnte, verwirrte mich nur noch mehr.
Diese Briefe waren alle an mich addressiert worden, sie waren von Judas für mich. Ich verstand das nicht.
Mit einem Ruck stand ich auf, ging zur Tür und schlug heftig dagegen.
"Wilst du mich verarschen?! Was spielst du hier für kranke Psychospielchen mit mir?!", schrie ich ihn durch die Tür an und schlug wieder gegen das Holz.
"Du bist verschwunden und hast dich nie wieder gemeldet! Diese beschissenen Briefe sind niemals bei mir angekommen! Meine Mutter hat mir nie erzählt, dass du sie angerufen hättest?! Was soll die verfickte Scheiße!?", schrie ich wieder und spürte meine Knöchel unter dem Holz knirschen.
Langsam taumelte ich ein paar Schritte zurück und fasste mir an den Kopf. Was sollte das? Warum zeigte er mir das? Ich hatte nie Briefe bekommen.

Ich hatte ihn gehört. Riven war auch kaum zu überhören mit seinem Geschrei. Ich hatte derweilen noch mehr Gin getrunken und kam dann wieder zurück zur Schlafzimmertür. "Was die verfickte Scheiße soll?", fragte ich nun lachend und doch mit Bitterlichkeit in meiner Stimme. "Ich entreiße dir deinen Grund, mein Leben zerstören zu wollen." Ich drehte langsam den Schlüssel um und öffnete die Tür. Ließ nun einfach das leere Glas fallen und kam auf ihn zu, packte ihn mir. Ich war stärker als er, nur in der Flucht war er besser. Bekam mit etwas Mühe seine Handgelenke zu fassen und zog ihn auf's Bett, wo ich ihn dann mit meiner Krawatte fesselte, die ich noch vom Konzert anhatte. "Aber keine Sorge, ich gebe dir einen neuen Grund. Will deinem traurigen Leben wieder einen Sinn geben." Mein Blut klebte in seinen Haare, auf seinem Handgelenk, der Krawatte. Ich schlug ihm nochmal durch sein helles Gesicht, dann packte ich seinen Hals. "Dachtest du wirklich, ich hätte dich damals einfach so verlassen? Dich im Stich gelassen? Hast du mir das wirklich zugetraut? Was bist du nur für ein Freund..." Ich drückte langsam aber sicher seine Luftröhre ab. "Was dachtest du denn, wie es für mich war, mein Zuhause zu verlieren? Meine Familie, meine Freunde, dich? Einfach alles zu verlieren. Du hast nur mich verloren und nichtmal das hast du bist heute verkraftet, du Schwächling."

Früher hatten wir oft gerangelt und auch wenn ich nie gewonnen hatte, hatte es mir Spaß gemacht. Aber das jetzt war kein Spaß mehr, so viel verstand sogar ich.
Immer wieder versuchte ich ihm meine Hände zu entreißen, bevor er sie am Ende doch zusammengebunden bekam. Der folgende Schlag in mein Gesicht lähmte mich für einen Moment. Ich fühlte es warm und feucht unter meiner Nase bluten und blinzelte gegen den Schmerz um wieder zu Judas aufzusehen.
"Ja...", antwortete ich mit gepresster Stimme, denn das hatte ich damals tatsächlich gedacht.
Wie hätte ich sein Verschwinden auch sonst interpretieren sollen? Vielleicht hatte ich mir unsere enge Freundschaft von damals auch nur eingebildet. In dem Punkt hatte er recht, ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nicht, wer dieser Kerl wirklich war. Aber die Vorstellung mich in ihm getäuscht zu haben hatte mich damals meinen Verstand gekostet.
Als er mir die Luft abdrückte röchelte ich und drückte meine gefesselten Hände gegen seine Brust, versuchte ihn vergeblich von mir runter zu drücken und schnappte dabei nach Luft wie ein Fisch an Land.
"Du scheiß... Mist..kerl", japste ich, hatte das Gesicht angespannt verzogen.
Mein Kopf lief rot an, bevor die Farbe langsam ins violette umschlug. Meine Adern traten hervor und bei genauem Hinsehen konnte man sie sogar pochen sehen.
"...ass...los...", röchelte ich, bekam keine Luft mehr, die Schläge gegen seinen Körper wurden schwächer, auch wenn mein Körper unter ihm immer noch bis zum Zerreißen angespannt war.

Ich genoss es, ihn zu würgen. Genoss es viel zu sehr, als das ich damit aufhören wollte. War gefesselt von den schönen Farben, die sein Gesicht veränderten. Als er schwächer wurde, ließ ich schließlich los. Ich wollte nicht, dass er ohnmächtig wurde oder ich ihn sogar noch umbrachte. Einige Male schlug ich ihn mit den Fingerspitzen gegen die Wange, damit er wieder wach wurde. "Sieh mich an, Riven. Sieh mich an!" Ich nahm sein Kinn und zwang ihn dazu, mir direkt ins Gesicht zu sehen. Ich beugte mich runter, bis ich das Blut seiner Nase riechen konnte. "Weißt du, als ich irgendwann da raus kam, kam ich zurück. Ich klingelte an eurem Haus, und da wart ihr aber schon weg gezogen. Ich war lange, sehr lange fort. Und ich habe sogar danach noch versucht, dich zu finden. Aber ich habe es nie geschafft und dann irgendwann aufgegeben. Die Therapeuten sagten alle, ich soll dich vergessen, weil ich sonst niemals mit alldem abschließen kann." Ich strich liebevoll über seine gerötete Wange, die heute schon viel abbekommen hatte. "Was für ein beschissener Freund du bist, zu glauben, dass ich dich einfach so verlasse. Schämen solltest du dich, Riven. Ich hätte doch alles für dich getan. Wirklich alles." Ich musterte ihn, erst sein Gesicht, dann seinen Oberkörper. Mein Blick glitt tiefer und ich bemerkte, wie ich eine Erektion hatte. Erneut packte ich ihn an den Haaren und riss seinen Kopf in den Nacken. "Was weißt du von damals, hm? Hat dir irgendwer was erzählt? Deine Mami? Oder dein Bruder?"

Sobald er mich los ließ rang ich heftig nach Atem, versuchte meinen Kopf von ihm wegzudrehen. Viel zu gierig saugte ich die Luft in meine Lungen, die meinen Brustkorb schnell auf und ab bewegten.
Das Gesicht schmerzverzerrt wandte ich von ihm ab. Es war nicht der körperliche Schmerz, der mich zum Beben und Krampfen brachte. Es war der Schmerz, den ich seit all dn Jahren tief in meiner Seele begraben hatte und der nun alte Wunden von ganz tief unten erneut aufriss.
Ein gellender Schrei verließ meine Lippen, ließ meinen Kopf wieder rot anlaufen. All die unterdrückten Gefühle, all der Schmerz brach mit einem Schlag aus mir heraus. Ich schrie und heulte und wand mich unter ihm. Ich wollte das alles nicht wahr haben.
Meine Welt hatte so wunderbar funktionert in der ich ihn hassen konnte für das was er mir angetan hatte. Und nun sollte es meine Schuld gewesen sein?
"Nein!", schrie ich und schüttelte meinen Kopf.
"Die Tour kannst du vergessen!", ich wollte ihm nicht glauben.
In meinem Kopf ratterte es, ich versuchte mich zu erinnern, doch irgendwer drückte die Tür zu meinen Erinnerungen von innen zu. Da waren nur noch Bruchstücke, viele Lücken und zwischendurch ein Gesicht, das ich aber nicht erkannte und danach wieder dieser Schmerz.
Bevor mir schwarz vor Augen wurde riss ich sie wieder auf und starrte verloren an die Decke.
Ich wusste nichts mehr.

Er begann zu schreien. Vorsichtshalber hielt ich ihm den Mund zu, damit er nicht zu laut wurde und die Nachbarn Angst bekämen. Er war nun außer sich, schrie, heulte, wandte sich. Er war wahnsinnig. Hatte sich sein ganzes Leben um meinen Verlust gedreht?
Ich hielt ihn fest, bis er langsam wieder ruhiger wurde. Dann beugte ich mich erneut heran und fuhr mit meiner Nasenspitze über seine Ohrmuschel, fast schon liebkosend. "Es ist wahr, Riven. Ich habe Beweise. Amtliche Beweise. Aber um alles zu erfahren, ist es zu früh für dich. Das hältst du jetzt nicht aus, glaub mir. Du bist zu schwach." Ich zog seinen Duft in meine Nase. Der Geruch meiner einst traumhaften, und dann monströsen Kindheit. Ich war nicht unschuldig, keineswegs. Riven hatte dieses alte Biest in mir wieder erwacht. Er würde sich noch wünschen, hier nie aufgekreuzt zu sein. Langsam richtete ich mich wieder auf, blickte auf ihn herab. "Du kannst deine Mutter fragen, wenn du es nicht abwarten kannst. Aber sie weiß auch nur einen Teil der ganzen Geschichte. Sie weiß nur das, was sie glauben will. Genauso wie du." Ich strich mit meiner Hand über seinen Oberkörper, riss mich dann aber zusammen. Stand auf, packte ihn wieder und zog ihn hinter mir her durch den Flur. Er musste nach all den Schlägen, Tritten und dem Würgen sehr schwach sein. Vor der Wohnungtür hielt ihn an und packte ihn am Kragen. "Gute Nacht, Riven." Ich öffnete die Tür und stieß ihn hinaus.

Stolpernd fiel ich aus der Tür und schlug mit dem Hinterkopf am Boden auf. Die gefesselten Hände erlaubten es mir nicht meinen Sturz abzufangen.
Einen Moment blieb ich dort liegen, starrte mit noch weit aufgerissenen Augen auf die Tür. In meinen Ohren schrillte ein heller Ton, der langsam schmerzte. Es war ein guter Schmerz, der mir die nötigen Impulse durch den Körper schickte mich zu bewegen. Ich konnte hier nicht liegen bleiben.
Fluchartig verließ ich das Gebäude, hatte keine Zeit auf die Bahn zu warten und rannte die Straße einfach weiter bis meine Beine taub wurden und ich langsamer laufen musste bevor ich noch hinfiel. Ich stand unter einer Straßenlaterne und blickte auf meine Hände, um die noch immer diese verdammte Krawatte gewickelt war. Meine Hände zitterten.
Ich hob meine Hände hoch, versuchte mit den Zähnen den Knoten zu lösen und zwang mich so lange zur Ruhe bis ich das verdammte Ding in den Händen hielt wie eine Schlange, der ich den Kopf abquetschen wollte.
Judas hatte sich verändert, so viel stand fest.
Ein leises Lachen kam aus meinem Mund und klang in der sonst absolut stillen Straße viel zu laut.

Die nächsten Tage verfolgte ich ihn nicht mehr, ich stand auch nicht mehr vor seinem Haus, ich lauerte weder ihm noch seiner Freundin nochmal auf. Es war zu riskant, meine Karte war fast schwarz. Und ich brauchte Zeit.

Ich schloss die Tür hinter ihm. Sollte er doch die nun zerknitterte Krawatte behalten. Sollte er damit doch zur Hölle fahren. Ich schloss die Tür ab, auch wenn er sie vielleicht öffnen würde können. Nun ging ich duschen, wusch mir den ganzen gefühlten Dreck von der Seele herunter und schmiss mir anschließend eine Beruhigungstablette ein. Ich wollte schlafen, und das in Ruhe. Kurz rief ich noch Teresa an und sagte ihr, wenn etwas sein sollte, solle sie mich direkt anrufen und ich würde zu ihr kommen.

Die nächsten Tage war es ruhig. Ich konnte ihn auch nicht mehr vor dem Haus sehen, um welches ich hin und wieder schlich, um zu prüfen, ob er mich noch verfolgte. Das tat er nicht. Hatte er seine Lektion gelernt?
Ich wusste nichts mehr über ihn. Nur seinen Namen. Keine Adresse, keine Telefonnummer. Mein Schlaf war unruhig in den letzten Tagen, ständig hatte ich ihn vor Augen und überlegte schließlich, ob ich den Spieß umdrehen sollte. Schließlich fand ich ihn in sozialen Netzwerken.
"Na, Mami gefragt? Oder hast du nun Angst vor der ganzen Wahrheit?", wollte ich wissen.

"Ey jo, da schreibt dir irgendso ein komischer Typ."
"Weg da", sagte ich knapp und schob Kai von meinem Laptop weg.
Mein Mitbewohner beschwerte sich, räumte den Platz dann aber, sodass ich einen Blick auf mein Nachrichtenfenster werfen konnte. Sofort spannten sich meine Kiefer an, so fest biss ich die Zähne zusammen.
>Lass meine Mutter aus dem Spiel<, war alles was ich ihm darauf zurückschrieb.
Meine Mutter... Zu ihr hatte ich schon seit einer halben Ewigkeit keinen Kontakt mehr. Genau genommen seit ich die Stadt verlassen hatte. Keine Ahnung ob sie noch dort lebte oder inzwischen ebenfalls umgezogen war. Ich wusste nicht mal ob sie noch lebte. Und irgendwo war es mir auch egal. Sie war nur die Frau, die mich geboren hatte. Sie war nicht der Inhalt meines Lebens.
Ich starrte auf Judas Namen und das Bild daneben. Er hatte sich wirklich stark verändert, war ein richtiger Mann gewonnen. Aber er hatte etwas in seinen Augen, dass früher nicht dort war
"Deine Karte war auch mal schwarz, stimmts?", murmelte ich leise zu mir selbst und lachte leise.
"Du warst ein böser Junge..."
"Kannst du mal diese Selbstgespräche und das komische Lachen sein lassen?", Kai warf mir einen leicht verstörten Seitenblick zu.
Ich nickte nur und winkte ihm kurz zu, bevor ich mich wieder dem Bildschirm zuwandte.

Die Antwort kam nach wenigen Sekunden. Nun konnte er mein Profil sehen. Viel war darin nicht enthalten. Ein Bild, mein Beruf, eine Freundesliste die er aber nicht sehen konnte, und es waren 3 Videos hochgeladen, in denen ich in einem Orchester mitspielte.
"Du hast meine Freundin noch viel tiefer in dein perfides Spiel reingezogen. Ich stelle dir nur eine Frage. Aber gut, wahrscheinlich bist du zu feige, um nachzufragen. Und, ist das kranke Spiel deinerseits nun vorbei?"

>Es hat gerade erst angefangen<, war meine Antwort darauf.
Wenn ich irgendeine Wahrheit erfahren sollte, dann wollte ich sie aus seinem Mund hören. Alles andere würde ich nicht akzeptieren.
In der Zwischenzeit klickte ich mich durch sein Profil, das aber genauso aussagekräftig war wie mein eigenes. Daraus konnte man kaum Informationen ziehen. Seinen Namen kannte ich, ich wusste wie er aussah, wa und vor allem wo er arbeitete. Das einzig interessante wäre seine Freundesliste, doch die war für mich nicht einsehbar. Die drei Videos ließ ich ungeöffnet nachdem ich gesehen hatte worum es ging.
Mit der Musik wollte ich nichts mehr zu tun haben.

"Pass auf, dass deine Taten nicht auffliegen. Dann ist dein Ende näher, als du denkst", riet ich ihm nur. Ich beendete vorerst die kleine Unterhaltung.
Die nächsten Tage waren merkwürdig. Ich fühlte mich anders, meine Freundin distanzierte sich sogar von mir, da ich sie nun schon zum zweiten Mal angeschrieb hatte. Ich hatte ihr nie die Wahrheit gesagt, auch jetzt nicht, und nun reizte sie mich zunehmend. Wir stritten uns eines Nachts in ihrer Wohnung, aus welcher ich schließlich die Flucht ergriff. "Warum kannst du mir nicht einfach die Wahrheit sagen!", schrie sie mir aus ihrem Fenster hinterher.
Ich antwortete ihr nicht mehr, lief einfach nur wieder durch die Straßen. Irgendwann blieb ich in einer leeren Seitengasse, setzte mich dort einfach auf den Boden und fuhr mir gestresst durch die Haare. Schließlich holte ich das Taschenmesser heraus, welches ich von ihm noch hatte.

"Lief ja gut", sagte ich amüsiert und trat aus dem Schatten auf der anderen Seite der Seitengasse, ein spöttisches Schmunzeln auf den Lippen.
Ich hatte ihren Streit mitbekommen und war ihm dann neugierig doch wieder gefolgt.
Die Hände in den Hosentaschen kam ich auf Judas zu und blieb vor ihm stehen, sah auf ihn runter.
"Jetzt fallen dir deine ganzen Lügen auf die Füße. Aber anders hast du es auch nicht verdient", seufzte ich und kramte aus meiner Jackentasche die Krawatte heraus.
Ich hielt sie ihm vor die Augen, ungewaschen, seine Blutflecken waren darauf noch zu erkennen, auch wenn es im fahlen Licht der Straßenlaternen auf der anderen Seite schwer war.
"Bevor du gleich wieder Theater machst, ich bin nur hier weil ich etwas zurückhaben will, was mir gehört", erklärte ich schnell und mein Blick fiel auf das Taschenmesser in seiner Hand.
Am Griff hatte es die Initialien J.E. Eigentlich war es sogar seines. Judas hatte es mir damals geschenkt, also gehörte es mir und ich wollte es wieder haben.
"Hab dir auch was zum Tausch mitgebracht."

Ich sah auf, als ich seine Stimme hörte. Kurz spannte ich mich an, konnte dann aber wieder ruhiger werden, was dessen zu verdanken war, dass ich ständig an ihn dachte und sein Kommen erwartete. "Ja, jetzt holt mich alles ein", bestätigte ich ihm und nickte nur. Grade war ich deprimiert. Das er einfach in mein Leben eingebrochen war, hatte mich verändert, und das bekam nun auch meine Umwelt zu spüren. "Aber ich habe nie gelogen. Ich habe Fehler gemacht, ich habe Dinge lange verschwiegen, bevor ich sie jemandem sagte. Aber gelogen habe ich nie. Und ich habe versucht alles wieder in Ordnung zu bringen. Das hat auch gut funktioniert, bis du aufgekreuzt bist." Ich hob den Kopf und sah ihn schuldzuweisend an. "Also, was willst du mir jetzt noch vorwerfen?" Ich hörte seine Forderung und überlegte eine Weile. Dann sah ich auf das Taschenmesser, drehte es in meiner Hand, las meine Initialien. Wann hatte ich es ihm geschenkt? Mit 8 Jahren?
Grade war ich - jedenfalls noch nicht - in streitlaune. Also nickte ich schließlich und warf es ihm rüber, damit er es fangen konnte.